Situation, die viele afghanische Jugendliche vorfinden, wenn sie in ihre Heimat zurückgeschickt werden.
Alles trifft nicht auf alle zu, aber vieles auf viele.
(Die Aussagen stützen sich auch auf vertrauensvolle Gespräche mit afghanischen Jugendlichen.
Genaue Zahlen und Daten kann man dem UNHCR-Bericht vom Dezember 2016, dem Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 10. Januar 2017 und der Presse entnehmen.)
Afghanistan ist ein zerrüttetes Land, in dem seit 1979, also seit fast 40 Jahren, Krieg und Terror und in Folge dessen Armut und Not herrschen. Seitdem fliehen Millionen Afghanen vor Not und Terror aus ihrer angestammten Heimat innerhalb Afghanistan und in die ganze Welt, oft in die Nachbarländer Iran und Pakistan, wo sie in Illegalität leben, aber auch nach Deutschland, das mit größter Sympathie als „Bruderland“ gesehen wird und ein sehr gutes Image genießt. Noch.
Es gibt kein einheitliches Staatsvolk, das sich über die verschiedenen Ethnien hinaus als gemeinsam afghanisch versteht und solidarisch ist, sondern es herrschen Dominanz und Konkurrenz der Ethnien.
Vor der Wahl 2014 herrschte große Hoffnung, dass es in einem demokratischen Afghanistan besser werden könnte. Die Flüchtlingszahlen gingen deshalb sichtbar zurück. Die Wahl führte jedoch zu einem politischen Patt, da die Führer der zwei großen Ethnien, Ashraf Ghani für die Paschtunen und Abdullah Abdullah für die Tadschiken, etwa gleich viel Stimmen bekamen, nun die Regierung gemeinsam stellen, sich aber gegenseitig blockieren. Der Stillstand führte zu einem rapiden Anstieg der Flüchtlingszahlen, v.a. der Jugend, die in Afghanistan keine Hoffnung mehr sieht.
Die Hazaras, eine schiitische Minderheit, wurden immer schon ausgegrenzt und benachteiligt. Sie leben in großer Armut und wurden und werden von den Taliban als Ungläubige verfolgt. Dieser religiöse Konflikt überlagert sich mit ethnisch-ökonomischen Konflikten. So überfallen paschtunische Kutschis (= Nomaden) in großer Zahl seßhafte Hazara-Bauern und berauben und töten sie im Namen der Religion. Und Taliban ‚verkleiden‘ sich als Kutschis und tarnen so ihre religiös motivierten Mordaktionen. Sicher ist in beiden Fällen: Die Regierung ist nicht in der Lage, die Hazaras zu schützen, weswegen sich Hazaras selbst bewaffnen und verteidigen. Die Jugendlichen müssen dann entweder auf Seite der Hazaras kämpfen, da jede Familie einen Kämpfer stellen muss, oder fliehen. Ein Großteil unserer afghanischen Jugendlichen sind Hazaras.
Sichere Zonen gibt es in Afghanistan prinzipiell und de facto nicht. Nicht nur, weil ständig Taliban-Aktionen und Terroranschläge stattfinden, sondern weil es im Einzelfall immer darauf ankommt, welcher Jugendliche in welchem Gebiet wann und wo leben wird, besonders wenn er aus dem für die Taliban verhassten, sündigen Westen zurückkommt. Als Hazara kann er nicht im Paschtunengebiet leben, als Tadschike nur unter großer Gefahr in einem mehrheitlich tadschikischen Dorf, das als Enklave in einem Paschtunengebiet liegt, das nun von Taliban bedroht ist. Viele Provinzen werden bereits von den Taliban beherrscht, andere von ihnen infiltriert, überall können jederzeit Überfälle oder Terroranschläge stattfinden. Die Zahl der Anschläge und Opfer steigt ständig, bsonders unter der Zivilbevölkerung.
Diese gefährliche Lage wird noch dadurch gesteigert, dass seit einiger Zeit immer mehr der IS, der Islamische Staat, in Afghanistan aktiv ist und Terroranschläge verübt, v.a. in den Städten, also in den sog. „sicheren Zonen“, und immer wieder gegen die „ungläubigen“ Hazaras.
Ist ein Junge wegen der Bedrohung durch die Taliban geflohen, ist es völlig unmöglich für ihn, in sein Heimatdorf oder seine Heimatstadt zurückzukehren, da es in dieser nach Ethnien und informellen Prinzipien organisierten Gesellschaft nicht geheim bleiben wird, selbst im „Millionendorf“ Kabul nicht. Er wird schnell als Rückkehrer enttarnt und somit bedroht.
Schutz und Sicherheit durch den Staat und seine Organe wird er nicht finden. Afghanistan ist kein funktionierender Staat, der für seine Bürger sorgen könnte. Weder der Rechtsstaat noch der Sozialstaat mit seiner staatlichen Für- und Vorsorge funktionieren. Es gibt weder ein Arbeitsamt noch ein Sozialamt, an das sich die Jugendlichen wenden könnten. Es gibt Millionen von Arbeitslosen, die sich irgendwie durchschlagen müssen, und ihre Zahl wächst ständig durch die wachsende Zahl der Binnenflüchtlinge und zurück gewiesenen Flüchtlinge aus dem Iran und aus Pakistan. Die jugendlichen Rückkehrer werden keine Arbeit finden, die sie ernährt.
Afghanistan leidet außerdem unter einer aufgeblähten, ineffizienten, korrupten Bürokratie, auf die kein Verlass ist. Ohne Beziehungen oder Bakschisch geht nichts. Die Jugendlichen haben aber kein Geld dafür.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind katastrophal. Im Land herrschen Armut und Hunger, was durch die Klimakatastrophen der letzten Jahre, v.a. extrem kalte Winter, wenig oder zuviel Regen und Hitzeperioden, noch verstärkt wird. In den Städten, v.a. in Kabul sammeln sich die Binnenflüchtlinge oder die aus dem Iran und aus Pakistan Vertriebenen und verstärken das Heer der Mittellosen und Armen. An den Stadträndern entstehen immer mehr Slums.
Unterstützende zivilgesellschaftliche Strukturen gibt es nicht.
Die medizinische Versorgung ist katastrophal und viel zu teuer für die Jugendlichen.
Im Gegensatz zu unserem Verständnis von Individuum, Staat und Gesellschaft herrschen in Afghanistan kollektive Strukturen. Die Loyalität bezieht sich ausschließlich auf Familie, Dorf und Stamm, in dieser Reihenfolge. Prinzipien wie Individualität und Pluralität, Autonomie und Selbstverwirklichung gibt es nicht. Auch deshalb werden unsere Jugendlichen, die dies bei uns gelernt und gelebt haben und somit eine andere Sozialisation durchliefen und als Persönlichkeit wuchsen, was unseren Ausbildungs- und Erziehungsprinzipien entspricht, nicht einfach zurückkehren und dort wieder Fuß fassen können.
Die Rückkehrer sind auf sich allein gestellt und somit existenziell auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Und das erweist sich als riesengroßes, extrem belastendes sozialpsychologisches Problem.
Die Jugendlichen flohen aus Afghanistan oder wurden weggeschickt. Sie wurden nie gefragt, ob sie das wollten. Bei vielen unserer Jugendlichen war der Vater gestorben und folglich die Familie in großer Not. Die Flucht kostete sie 5000 bis 8000 Dollar. Diese Summe wurde von der Familie mühsam zusammengetragen, indem Felder verkauft, bei Verwandten Kleinsummen eingesammelt wurden, von einem Großgrundbesitzer eine größere Summe geliehen oder eine Tochter an den Geldgeber, oft einen Verwandten, verheiratet wurde.
Die Jugendlichen konnten diese Schulden nicht zurückzahlen. Dafür ist das Taschngeld zu gering. Sie leiden deshalb permanent unter schlechtem Gewissen und bekommen darüber hinaus Druck von zuhause.
Wenn sie jetzt zurückgeschickt werden, kommen sie mit diesen für afghanische Verhältnisse riesigen Schulden zurück, aus einem reichen Land, in dem nach afghanischer Denkweise „das Geld auf der Straße liegt“. Sie kommen somit als „Looser“ zurück, die versagt haben. Denn andere schaffen es ja auch und somit vermischen sich Neid, Häme, Spott und Schmach.
Und niemand wird ihnen glauben, dass sie tatsächlich weder etwas verdienen noch ansparen konnten. Die Vermutung bzw. die Gewissheit in ihrer Verwandtschaft, ihrem Dorf oder ihrem Stadtviertel wird sein, dass sie es verprasst und für ein schönes Luxusleben im reichen Deutschland ausgegeben haben. Und somit bringen sie Schande über sich und ihre Familie, und ihr und deren Ruf ist zerstört. Die Familie muss unter größter Anstrengung und Not die Schulden zurückzahlen.
Diese Schande steigert sich zum Skandal, wenn den Rückkehrern unterstellt wird, sie hätten im ungläubigen Westen ein sündiges Leben (haram) geführt, mit Alkohol und Mädchen, und so das Geld verjubelt. Diese Unterstellung wird lebensgefährlich, wenn die Jugendlichen aus Regionen stammen, die von den Tailban dominiert werden. Denn für sie lebten sie im sündigen Westen, sind vom wahren Glauben abgefallen und verdorben.
Die Schande der Rückkehr ist aus diesen Gründen so groß, dass die Jugendlichen nach eigenen Aussagen nicht in ihr Dorf oder ihre Kleinstadt zurückkehren können, sondern sich in einer größeren Stadt durchschlagen müssten, was aber ohne Unterstützung der Familie nicht möglich ist, die sie ja nicht bekommen. (s.o.)
Die Kategorie der Schande ist deshalb so existenziell, weil in Afghanistan eine Kultur der Ehre und der Schande herrscht, die man nicht ignorieren kann und die das Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen prägt.
Aus diesen Gründen ist die Aussage der Jugendlichen, sie könnten nie zu ihrer Familie zurück, verständlich.
Darüber hinaus gibt es ein sehr ernst zu nehmendes Problem, das bei den Jugendlichen große Angst auslöst. Denn viele werden ihnen nicht glauben, dass sie keine große Summe Geld, zumindest für die aufgenommenen Schulden, die sie ja zurückgeben müssten, mitbringen. Also wird angenommen, dass sie das Geld irgendwie verstecken, und somit drohen ihnen und ihrer Familie Entführung und Erpressung. Eine gängige Praxis in Afghanistan, v.a. in den Städten, also den sogenannten „sicheren Zonen“.
Ein Sonderproblem besteht für die vielen jungen Afghanen, die vor ihrer Flucht nicht in Afghanistan lebten, sondern seit Jahren im Iran, meist mit ihrer Familie, manchmal aber auch allein, um für den Unterhalt ihrer Familie zu sorgen, aber immer in der Illegalität und in der Gefahr verhaftet und abgeschoben zu werden. Werden sie von der iranischen Polizei verhaftet, werden sie oft erpresst, mit den schiitischen Milizen in Syrien auf der Seite Assads zu kämpfen. In den Iran können und dürfen die junge Flüchtlinge nicht zurück.
Sie nach Afghanistan abzuschieben, heißt aber, dass sie sich dann völlig allein, ohne familiäre Unterstützung in Kabul durchschlagen müssten. Ohne kollektive Stützsysteme gibt es aber in Afghanistan, auch in Kabul oder Herat, keine Möglichkeit, auf legale Weise sein Existenzminimum zu sichern.
Für alle Jugendlichen, die nach Kabul abgeschoben werden, gilt, dass sie dort keine Chance auf einen Job haben, der sie anständig ernährt, und dass sie nicht mit der Unterstützung und dem Halt ihrer Familie rechnen können und mit der Verfolgung durch die Taliban rechnen müssen.
Sie sind im wahrsten Sinne verloren.
Und deshalb wehren wir uns, unabhängig von asyl- und migrationspoltischen Überlegungen, gegen die praktizierte inhumane Asylpraxis, die den afghanischen Jugendlichen trotz ihrer anerkennswerten Integrationsleistungen Arbeit und Ausbildung verweigert und sie mit Abschiebung bedroht, in ein Land mit Krieg und Terror, in dem sie kein Leben in Sicherheit und Würde führen können.
Wir fordern deshalb nachdrücklich
- die Würdigung ihrer Integrationsleistungen
- Ausbildung statt Abschiebung
- Schutz der Flüchtlinge in Behandlung
- Akzeptanz der Dauergeduldeten
- Änderung der Lagebeurteilung Afghanistans
Wir werden im Kampf um unsere afghanischen Schützlinge und im Kampf gegen die rigide, restriktive, inhumane Asylpolitik v.a. in Bayern nicht nachlassen. Im Gegenteil.